© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Ein deutscher Lawrence of Arabia
Eine biographische Annäherung an den Nachrichtenoffizier Ernst Adolf Mueller, der im Ersten Weltkrieg in der Türkei und im Nahen Osten wirkte
Jürgen W. Schmidt

In Leonberg bei Stuttgart verstarb am 5. März 1990 der Gynäkologe Ernst Adolf Mueller im Alter von 91. Jahren. 1898 in München als Arztsohn geboren, hatte er in zwei Weltkriegen in Deutschlands militärischen Geheimdiensten gedient, zuerst in der Abteilung IIIb, später in der „Abwehr“. 

Weil er eine Abenteurernatur und zugleich ein eifriger Weltenbummler war, kam Mueller in exotischen Gegenden zum Einsatz. Dabei half ihm sein großes Sprachentalent, denn neben Englisch und Französisch beherrschte er Türkisch und später auch Arabisch. 1915, als 17jähriger, meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und Fahnenjunker beim bayerischen Telegraphenbataillon in München. Wegen seiner Sprachkenntnisse und unter Protektion von Mitgliedern des bayerischen Königshauses ermöglichte man ihm den Übergang zur Geheimdienst-Abteilung IIIb, und nach gründlicher Schulung kam er ab 1915 in der Türkei zum Einsatz. 

Von Thomas Lawrence hielt Mueller nicht sehr viel

Obwohl bei seinem Anblick ein höherer deutscher Offizier verärgert befahl: „Schicken Sie das Kind nach Hause!“, gelang es Mueller seine Nützlichkeit zu beweisen. Er dolmetschte anfangs in der Türkei Gespräche zwischen türkischen und deutschen Militärs und belauschte insgeheim Gespräche türkischer Offiziere, wenn sie glaubten, sich auf türkisch von Deutschen unbemerkt verständigen zu können. Er überwachte deutsche Militärtransporte auf türkischen Bahnen, wo viel militärisches Frachtgut „verlorenging“ und konnte eine Schieberorganisation unter Leitung eines deutschen Offiziers entlarven. 

Später hörte er englische Funksprüche an der Palästinafront ab und dechiffrierte sie. Kurz vor der englischen Großoffensive Ende 1917 bereiste er mit zwei Arabern die Wüste, um an Ort und Stelle die Stimmung unter den Beduinen zu erforschen. Einmal, so behauptet wenigstens Mueller, nächtigte er genau dort, wo kurz vor ihm Thomas E. Lawrence Aufnahme fand. Von Lawrence hielt Mueller übrigens nicht sehr viel und dessen Aufwiegelung der Araber zum nationalen Befreiungskampf nur für einen großen Mythos. Seiner Meinung nach wollten die Araber nur im Gefolge des Krieges auf der jeweiligen Siegerseite kräftig plündern. 1918 gerät er verwundet in englische Gefangenschaft. Wegen seiner vorzüglichen Sprachkenntnisse dient er den Engländern als Dolmetscher und kann folglich manches Berichtenswerte erleben. 

Am meisten beeindruckte ihn, daß einsichtsvolle Engländer damals schon Churchill für den „Totengräber des Empire“ hielten, weil er mit seiner Art von Kriegführung den Glauben der Völker im Nahen und Mittleren Osten an die gegebene Vormachtstellung des „weißen Mannes“ massiv untergrub. Einen negativen Eindruck für das ganze weitere Leben machten auf Mueller die meist jiddisch sprechenden Zionisten, welche die deutschen Kriegsgefangenen in Ägypten bewachten und denen sich die jüdischen deutschen Gefangenen kollaboratorisch annäherten, „ohne Rücksicht auf ihr Vaterland“, wie Mueller erbittert schreibt. 

Möglicherweise begann an dieser Stelle ein Weg, der Mueller später in die SA und NSDAP führte. Erst ab 1975 begann der mittlerweile betagte Mueller seine Kriegs- und Nachkriegserinnerungen in vielfältigen Varianten niederzuschreiben. Der Historiker Oliver Stein, rühmlich bekannt durch seine Dissertation über die deutsche Heeresrüstungspolitik von 1890–1914, hat die von Mueller vorgelegten Manuskripte historisch-kritisch untersucht, eingeleitet und in vorliegendem Band publiziert.

Oliver Stein: Nachrichtendienstoffizier im Osmanischen Reich. Ernst Adolf Muellers Kriegseinsatz und Gefangenschaft im Vorderen Orient 1915–1919. Ergon Verlag, Baden-Baden 2018, gebunden, 279 Seiten, Abbildungen, 68 Euro