© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Die sowjetische Blutspur im Osten Polens
Nach der Okkupation der Roten Armee im September 1939 folgte eine fast zweijährige Schreckenszeit mit Hunderttausenden von Toten
Robert Winter

Vierzehn Tage nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf Polen marschierten die Armeen Stalins – ohne Kriegserklärung und wie im Hitler-Stalin-Pakt vereinbart – von Osten her in das Land ein. Das Territorium von Ostpolen umfaßte die Gebiete der Westukraine und des westlichen Weißrußlands sowie die Region um Wilna.

Die auf keinen Überfall vorbereitete und weit unterlegene polnische Armee konnte den Aggressoren kaum etwas entgegensetzen. Bis heute sind zahlreiche Verbrechen des NKWD und der Roten Armee noch immer nicht vollständig aufgearbeitet. Schon während und vor allem nach dem sowjetischen Einmarsch kam es zu ersten Massenerschießungen polnischer Soldaten und Offiziere. So fanden im von den Rotarmisten besetzten Wilna Massenexekutionen statt, denen vor allen höhere Offiziere der polnischen Armee zum Opfer fielen. 

NKWD-Kommandos hatten Verwaltung übernommen

In Rohatyn töteten sowjetische Truppen nicht nur männliche Zivilisten, sondern auch Frauen und Kinder. Im Dorf Nujno ermordeten die Sowjets mehr als zwanzig schwerverletzte polnische Soldaten und Offiziere. In Grodno wurden mehrere hundert Verteidiger der Stadt von Rotarmisten erschossen. Erschießungen polnischer Offiziere wurden auch in Chodorow, Stryj, Poleski, Tarnopol, Oszman, Nowogrodziec und anderen Städten durchgeführt. In mehreren Orten gingen betrunkene Rotarmisten gegen die polnische Zivilbevölkerung vor. In vielen Städten kam es zu Plünderungen und Beschlagnahmungen. Sowjetische Soldaten bemächtigten sich der Lebensmittelvorräte, schon bald mangelte es an Mehl, Fleisch, Salz, Zucker. Die Einwohner warteten in kilometerlangen Schlangen auf Brot.

Unmittelbar nach der Besetzung Ostpolens wurden die okkupierten Gebiete an das Territorium der UdSSR angegliedert. Die gesamte Bevölkerung wurde kurzerhand zu Bürgern der So-wjetunion erklärt. Sonderkommandos des NKWD hatten die Verwaltung in den besetzten Gebieten übernommen. Nach Beendigung der letzten Kampfhandlungen im Oktober 1939 gerieten 242.000 polnische Militärangehörige in sowjetische Gefangenschaft. Diese wurden in Sonderlager des NKWD verbracht oder mußten Zwangsarbeit in Sibirien leisten. 

Zwischen 1939 und 1941 wurden zudem Hunderttausende polnische Zivilisten verschleppt. Bei den Deportierten handelte es sich um Osadniki, das waren Militärangehörige, die für ihre Verdienste im Polnisch-Russischen Krieg 1920/21 Bodenzuteilungen erhalten hatten, aber auch um begüterte Bauern (Kulaken) samt ihren Familien, um Verwandte und Angehörige der zur Erschießung bestimmten polnischen Offiziere, um Juden sowie um Angehörige intellektueller Berufe, hochqualifizierte Facharbeiter und Eisenbahner.

Besonders die Offiziere der polnischen Armee waren ins Visier von Stalins NKWD-Schergen geraten. Das Massaker von Katyn, dem 4.421 polnische Offiziere zum Opfer fielen, ist heute das bekannteste. Die Massengräber aus dem Frühjahr 1940 mit den verscharrten Offizieren im Wald von Katyn, welche erst 1943 von den Deutschen entdeckt wurden, waren teilweise zuvor in der Smolensker NKWD-Zentrale erschossen worden. Zu weiteren Massakern an polnischen Offizieren kam es in Charkow und Kalinin. Insgesamt wurden an den drei genannten Orten mehr als 15.000 polnische Soldaten von Angehörigen der Roten Armee oder des NKWD ermordet. Weitere Massenerschießungen von polnischen Militärangehörigen folgten. Viele der Massengräber wurden erst nach 1990 entdeckt. So auch das Gräberfeld bei Bykownia nahe Kiew, das die Gebeine von etwa 130.000 Menschen verschiedener Nationen, darunter die von etwa 2.000 polnischen Offizieren (JF 34/06), enthielt. 

Sowjetische Mordwelle nach dem deutschen Angriff 1941

Eine neue Welle des Massenmords wurde kurz vor Einmarsch der deutschen Truppen in die Sowjetunion im Juni 1941 eingeleitet. Alle Insassen der zahlreichen Haftanstalten sollten evakuiert oder ermordet werden. So kam es in den Gefängnissen oder auf den zahlreichen „Evakuierungsmärschen“ zu unvorstellbaren Schreckensszenen, begangen von Soldaten des ersten sozialistischen Staates. 

Ende Juni 1941 ereignete sich das Massaker von Tarnopol. Im Innenhof des dortigen Gefängnisses ermordeten NKWD-Angehörige mehr als 500 politische Gefangene. Augenzeugen sprechen von bis zu 1.000 Opfern. Unter den Leichen befanden sich auch deutsche Kriegsgefangene. Von einer aus der Stadt herausgeführten Kolonne, etwa 1.200 Häftlinge, fehlt jede Spur. Im Gefängnis der Stadt Berezwecz (Bezirk Wilna) töteten Sowjetsoldaten etwa 4.000 Häftlinge (zumeist Polen und Weißrussen), viele der Ermordeten waren verstümmelt worden. Ein weiterer Massenmord ereignete sich auf dem Weg Wilejko-Borysow; in Wilejko fand man wenig später eine Anzahl von Rotarmisten verstümmelter Leichen. 

Ein Massengrab mit den Leichnamen einiger hundert Polen wurde im angrenzenden Garten gefunden. In Lemberg ermordeten Angehörige der Roten Armee vor ihrem Abzug etwa 7.000 bis 8.000 Häftlinge (Polen, Ukrainer und auch Juden). Solche oder ähnliche Massenerschießungen ereigneten sich überall in Ostpolen.