© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Er wollte den Geist der Natur erfassen
Preußischer Weltbürger und Prophet der ökologischen Krise: Das Universalgenie Alexander von Humboldt aus bundesdeutscher Sicht
Wolfgang Müller

Es ist schon ein Weilchen her, als ein größeres Publikum vom Universalgenie Alexander von Humboldt Notiz nahm. Damals, 2005, als mit Daniel Kehlmanns romanhafter, Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauß mehr karikierenden denn porträtierenden Doppelbiographie „Die Vermessung der Welt“ ein verlegerisches Märchen wahr wurde, mit einer weltweiten Gesamtauflage von mehr sechs Millionen Exemplaren. 

Freilich, jener Adlige, der am 14. September 1769 in Berlin das Licht der Welt erblickte, den sie bis heute als „Aristoteles der Neuzeit“, „preußischer Kolumbus“ und „Wiederentdecker Amerikas“ rühmt, ähnelt wenig Kehlmanns Humboldt. Einer nach dem Piefke-Prinzip „Menschen wie du und ich“ konstruierten Kunstfigur, die unentwegt jene Lesefrüchte zitiert, die ihr Erfinder aus gängigen Monographien zu Leben und Werk des Naturforschers errafft hatte. Um ihn nach dem Muster von Roman Polanskis manischem Königsberger Professor Abronsius („Tanz der Vampire“, 1967) als einen in die lateinamerikanische Wildnis verirrten, arbeitswütigen, eben „typisch deutschen“ Pedanten zu denunzieren, der „alles untersuchte, was nicht Füße und Angst genug hatte, ihm  davonzulaufen“.

Diese „Anthologie der Gemeinplätze“, diese kein Klischee auslassende „Kehlmannisierung Humboldts“, ist für den Potsdamer Romanisten Ottmar Ette allenfalls rezeptionssoziologisch interessant, um die Niederungen des Literaturmarkts auszuloten. Ette, Jahrgang 1956, der führende Humboldt-Experte, dessen Monographie über „Alexander von Humboldt und die Globalisierung“ (2009) mitsamt des wütenden Kehlmann-Verrisses zum Jubiläumsjahr 2019 wieder aufgelegt worden ist, kann mit Genugtuung registrieren, daß nicht zuletzt dank seiner Bemühungen neu edierte Teile des monumentalen „Reisewerks“, der „Grande Édition“ seiner prachtvoll illustrierten „Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent“ (1809–1834), der „Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker“ (1813) sowie des „Kosmos“ (1845–1858) mittlerweile breitere Leserschichten ansprechen, denen es offenbar um eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit dem längst noch nicht vollständig erschlossenen Œuvre geht.

Einen weiteren kräftigen Schub erfuhr diese Humboldt-Renaissance im Vorfeld des 250. Geburtstags durch die vor allem in Deutschland von Hysterie nicht freien Kontroversen über Klimawandel, Erderwärmung und CO2-Belastung der Atmosphäre. Der Gelehrte steigt vor diesem Hintergrund jetzt kometenartig zum frühen Warner vor der Naturzerstörung und zum „Vater der Umweltbewegung“ auf, als den ihn die Kulturhistorikerin Andrea Wulf in ihrer geradezu offiziös gewordenen Biographie („Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“, 2015) inszeniert. Gehörte Wulf, wie Ette und ein weiterer Biograph, der Tagesspiegel-Kulturchef Rüdiger Schaper („Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neue Welt“, 2018), doch jüngst zum Troß des in Kolumbien und Ecuador auf Humboldts Pfaden wandelnden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, wo sie sich persönlich davon überzeugen durfte, wie tief das Staatsoberhaupt ihre Auffassung vom „Propheten der globalen ökologischen Krise“ bereits verinnerlicht hat (Die Zeit vom 21. Februar 2019).

Artenvernichtung durch den Störenfried Mensch

Die grundlegende Bedeutung des Waldes für Ökosysteme, die klimaverändernden Folgen seiner Abholzung und Verdrängung durch Monokulturen nach Art der Zuckerrohrplantagen auf Kuba, die Umweltvergiftung durch den Bergbau in „Neuspanien“ (Mexiko) oder die Artenvernichtung durch den Menschen, den „Störenfried“ der Natur, habe Humboldt zwischen 1799 und 1804, auf seiner Forschungsreise selbst in der relativen Zivilisationsferne des spanischen Kolonialreichs, zu dem Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und Kuba gehörten, vielfach beobachten können. Vom alttestamentarischen ökonomischen Evangelium „Machet euch die Erde untertan“, so Wulf,  hätten ihn diese Erfahrungen genauso geheilt wie seine tiefen Einblicke in den Zusammenhang von Kolonialismus und rücksichtsloser Ausbeutung nicht nur der Naturressourcen, sondern auch indigener und importierter Arbeitssklaven.     

Für Wulf ist der Auftakt des „Amerikanischen Reisewerks“, Humboldts Goethe gewidmete „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ (1807), „das erste ökologische Buch der Welt“, weil es die Flora in ihren lebensräumlichen, nach Regionen und Klimazonen unterschiedenen Gesamtzusammenhängen betrachte und sie nicht mehr in der künstlichen taxonomischen Ordnung eines Klassifikationssystems wie das des schwedischen Botanikers Carl von Linné presse.

Sein „Entwurf einer physischen Weltbeschreibung“, sein berühmter „Kosmos“ von 1845, ging dann konsequent aus diesem ökologischen, „alles mit allem“ verknüpfenden Ansatz hervor, die, wie es in der Vorrede heißt, „Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte belebtes und bewegtes Ganzes aufzufassen, um so ein allgemeines Naturgemälde als Übersicht über die Erscheinungen im Kosmos, von den fernsten Nebelflecken und kreisenden Doppelsternen des Weltraums zu den tellurischen Erscheinungen, in einer Geschichte der Weltanschauung, das heißt der allmählichen Auffassung des Begriffs von dem Zusammenwirken der Kräfte in einem Naturganzen“ zu geben.

Mit ihrer für das aktuelle Zeitgeistbedürfnis maßgeschneiderten Biographie krönt Wulf die Wirkungsgeschichte, die in der Berliner Republik im Zeichen des „supergrünen Humboldt“ steht, wie der niederländische Wissenschaftshistoriker Nicolaas Rupke in seiner „Metabiography“ (2005) spottet.

Ausgespart bleibt dabei regelmäßig der rosa Elefant im Raum. Frei nach Max Horkheimer gilt hier: Wer vom Kapitalismus, dem „warenproduzierenden System der globalisierten postmodernen Plünderungsökonomie“ (Robert Kurz)  nicht reden will, sollte von der Naturzerstörung schweigen. Denn bei Wulf sind es lediglich ominöse „Gier“ und „Habsucht“ des abstrakten „Menschen“ oder der anonymen „Menschheit“, die den Prozeß der Naturzerstörung vorantreiben und den „Hain zu Holz“ (Hegel) verarbeiten. So bleibt auch der fundamentale Unterschied unterbelichtet zwischen dem vorwiegend ästhetischen Naturverständnis Humboldts und seines Mentors Goethe einerseits, dem technischen, auf Beherrschung und profitable Vernutzung ausgerichteten Verhältnis zur Natur, wie es im Zeitalter der auch von Karl Marx hymnisch gepriesenen „Großen Industrie“ andererseits herrschte.  

Die Natur als Einheit in der Vielheit, als den Menschen einschließendes lebendiges Ganzes verstehen zu wollen und wie Humboldt zu proklamieren, daß es die „erhabene Bestimmung des Menschen“ sei, „den Geist der Natur im Ganzen zu erfassen und den rohen Stoff empirischer Anschauung durch Ideen zu beherrschen“, ist zur Zeit der heraufziehenden Frühindustrialisierung schon nicht mehr selbstverständlich. Ideen rechnen sich nämlich nicht. Die von der Philosophie emanzipierten Naturwissenschaften, die die Homo-Faber-Techniken der Naturausbeutung anleiten, kommen ziemlich exakt seit Humboldts Tod (1859) ohne sie, ohne die Idee einer Mensch und Natur homogenisierenden Totalität aus.

Ahnherr eines dezidiert konservativen Naturdenkens 

Dieses idealistische Welt- und extrem hohe Ansprüche stellende Menschenbild scheint also an vorkapitalistische, agrarische Gesellschaftsformen und die um 1800 im deutschen Kulturraum entwickelten Vorstellungen vom schönen Leben allseitig gebildeter Persönlichkeiten gebunden zu sein. An Humboldts Beispiel „Weltbewußtsein“ einzuüben, wie Ottmar Ette es empfiehlt, um sich als „nachhaltig“ handelnder Teil der Natur moralisch zu bewähren, ist aber unter dem Primat kapitalistischer Reproduktionsbedingungen bestenfalls nur außerhalb der „Megamaschine“ (Rudolf Bahro) möglich. 

Was nichts schlagender beweist als die Abschaffung des von Alexander von Humboldts Bruder Wilhelm konzipierten preußisch-deutschen Universitätssystems durch die auf umfassende Ökonomisierung von Bildung zielende Bologna-Reform. Die „Fähigkeit des Zusammendenkens“, die Ette korrekt als den Kern des Bildungsideals der Humboldt-Universität wie des sich in globalen Dimensionen orientierenden Naturforschers erfaßt, ist das genaue Gegenteil der so wirtschaftskonformen wie demokratiefeindlichen Bologna-Erziehung, die ihre Zöglinge auf unmündige Funktionalität und beschränktes Spezialistentum trimmt.

Der nach dem Vorbild des „grünen Kosmopoliten“ Humboldt von Steinmeier & Co. erträumte bundesdeutsche „Weltbürger“, der ein „doppelt nützlicher Staatsbürger“ (Ette) sei, weil er Verantwortung für die „Weltrettung“ fühle, kommt jedenfalls beim neoliberalen Training rundum verwert- und lenkbarer Bachelor-„Kompetenz“ nicht heraus. Womit eine andere geschichtsklitternde Ebene der Humboldt-Aneignung erreicht ist, die, noch vor dem von den „Ideen von 1789“ begeisterten „weltbürgerlichen Demokraten“, jenen Humboldt auf ihren Sockel hebt, der „Anti-Nationalist“ gewesen sei, „bevor Deutschland seine nationale Einheit erreicht hatte“ und dessen „Heimat der Nationalstaat Europa“ gewesen sei (Wolf Lepenies). Also Fleisch vom Fleische des bundesrepublikanischen Selbstabschaffers. 

Tatsächlich war der Aristokrat und seit 1827 am Berliner Hof geistdiensttuende, die Hierarchien achtende, die Etikette genießende Kammerherr Humboldt ein konservativer preußischer Monarchist mit liberalen Neigungen. Ein Konservativer, der sich, wie Ette zutreffend bemerkt, „am kulturellen Meridian der abendländischen Antike ausrichtete“, ohne eurozentrisch auf andere Weltkulturen herabzublicken.

Nur aus diesem preußischen Neuhumanismus ist auch Humboldts pantheistisches, Metaphysik und Wissenschaft versöhnendes, harmonisches Naturverständnis zu erklären, das ihn zum Ahnherrn eines dezidiert konservativen Naturdenkens macht. Es führt von den Romantikern über Ludwig Klages und Herbert Gruhl bis zu Panajotis Kondylis und Rolf Peter Sieferle, die in den 1980ern über ökologische Ethik, Grenzen des Wachstums, den Zusammenhang von Überbevölkerung und Umweltzerstörung reflektierten und so ihre „Fähigkeit des Zusammendenkens“ bewiesen, als die Linke in ihrer traditionellen, fortschrittshörigen Naturverschlossenheit noch nicht über den Tellerrand zutiefst provinzieller „Diskursethiken“ hinauszuschauen vermochte.

Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. C. Bertelsmann, München 2016, gebunden, 560 Seiten, 24,99 Euro

Ottmar Ette: Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Suhrkamp, Berlin 2019, broschiert, 476 Seiten, 14 Euro

Ottmar Ette (Hrsg.): Alexander von Humboldt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018, gebunden, 331 Seiten, Abbildungen, 99,99 Euro