© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/19 / 13. September 2019

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Kein Plenar-, sondern ein Kreißsaal
Paul Rosen

Es muß ein erhabener Moment für Annemarie Lehmann gewesen sein, als sie vor dem Reichstagsgebäude von Mitarbeitern des Parlaments in Empfang genommen und hineingeleitet wurde. Die 95jährige Frau hatte im Keller des Gebäudes am 29. Juli 1944 ihre Tochter Heidi Mangino geboren. „Es war eine schwierige Geburt, sie war ein starkes Mädchen, acht Pfund hatte sie“, berichtete die Seniorin. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte am vergangenen Sonntag sogenannte „Reichstagskinder“, die  in der Kriegszeit im Keller des Parlamentsgebäudes geboren wurden, zum Tag der offenen Tür in den Bundestag eingeladen. „Es gab auch in dieser dunkelsten Zeit noch Licht. Und das Licht sind sie“, sagte Schäuble zu Frau Lehmannn, ihrer Tochter und rund 15 Reichstagskindern, die nach einem Aufruf des Bundestages den Weg an ihre Geburtsstätte gefunden hatten (JF 18/19). 

Vielen war ihr besonderer Geburtsort gar nicht bewußt. Wolfgang Buckow ist so ein Fall. Der ehemalige Kriminalbeamte aus Berlin schilderte, daß er mit 37 Jahren von einem Standesbeamten auf den besonderen Geburtsort aufmerksam gemacht worden war. Von seiner Mutter sei er nie darüber informiert worden: „Der Krieg war tabu.“ Wie die medizinische Versorgung in dem von ständigen Bomberangriffen bedrohten Berlin genau funktionierte, ist heute nicht mehr so einfach nachzuvollziehen. Schäuble meinte, alle Unterlagen seien vernichtet. Aber das stimmt nicht ganz, denn immerhin wurde noch ein Aktenvermerk des Reichsrechnungshofes aus dem Jahr 1941 gefunden, daß es im Keller des Reichstags für 204 Kinder und 39 werdende Mütter eingerichtete Luftschutzräume gegeben habe. Wo sich die Geburtsstation befunden haben könnte, ist heute nicht mehr zu klären. Nach der Sanierung im Rahmen des Berlin-Umzuges erinnert heute nichts mehr an den Reichstag der Vorkriegs- und Kriegszeit.

Frau Lehmann berichtete Erstaunliches: Danach sei die Hebamme über einen Tunnel aus der Reichskanzlei gekommen. Daß es zu Kriegszeiten einen solchen gab, war bisher nicht bekannt. Auch in der Reichskanzlei soll sich ein Notkrankenhaus und eine Neugeborenenstation befunden haben, ebenso im Keller des  Reichsbankgebäudes. Wie viele Kinder im Reichstag zur Welt gekommen sind, konnte bisher nicht geklärt werden. Der Bundestag verweist auf Schätzungen, daß es zwischen 60 und 80 Kinder gewesen sein könnten. 

Viele Schwangere legten seinerzeit weite Wege zurück, um Schutz hinter den dicken Mauern des Reichstages zu finden. Die Mutter von Mareile van der Wyst etwa pendelte tagelang jeden Abend vom Stadtteil Lichtenberg zum Reichstag, Und der im Reichstag geborene Walter Waligora berichtet, seine Mutter sei jeden Abend vom Tiergarten drei Kilometer zum Reichstagsgebäude gegangen. 

Dort erinnert heute nichts mehr an diese kurze Episode. Eine Informationstafel wäre sinnvoll, damit die Reichstagskinder und ihre Mütter nicht in Vergessenheit geraten.