© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/10 13. August 2010
In der Sprache der Kolonialherren Vor ein paar Wochen ließ es die alte Tante Zeit mal so richtig krachen. Jungdichter durften sich im Denkmalsturz üben. Gottfried Benn fiel dabei vom Sockel, erwartungsgemäß. Aber auch Hausgötter des studienrätlichen Zeit-Geistes, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, und, nachdem ein Skribent zunächst knierutschend beteuerte, er sei bittschön kein Antisemit, selbst Paul Celan. Dessen schwarze Milch und der abgegriffene Tod, der ein Meister aus Deutschland sein soll unsäglicher Kitsch, gedruckt nur mit Rücksicht auf den Opfer-Bonus seines Fabrikanten. Auf zwei Seiten groß gefahren, war das immerhin ein löblicher Ansatz, um bundesdeutsche Bücherregale um einige seit 1945 angesammelte Festmeter Kanon-Wortmüll zu erleichtern. Aber er blieb im Ästhetizismus stecken. Der schriftstellernden Generation Golf genügte es, Bachmann oder Celan als Fadlinge zu entlarven, als bieder-unbegabte Stilisten, zweitklassige Klischee-Produzenten, Verlierer im Kampf mit der deutschen Sprache. Die naheliegende Frage nach den Ursachen dieses Dilettantismus, der den allergrößten Teil der Literatur aus der Bonner und selbstredend der Pankower Republik heute unlesbar macht, stellen unsere revisionistischen Nachwuchspoeten jedoch lieber nicht. Hätte doch allein die Suche nach einer druckfähigen Antwort schon Existenzsorgen ausgelöst. Wer die nicht hat oder nicht scheut, richtet den kalten Blick mit dem Berliner Publizisten Thorsten Hinz auf den moralischen Krebs, der sich in der literarischen Weltdeutung und Sinnstiftung nach dem Untergang des ganz ohne Anführungszeichen seis gesagt tausendjährigen Deutschen Reiches metastasenartig ausbreitete. Vom ersten Tag an dem Altpapier geweihte Literatur, so die schlagende These von Hinz, sei deshalb entstanden, weil zwar nicht in jeder, aber doch in den meisten Zeilen der Alfred Andersch, Wolfgang Koeppen, Heinrich Böll und Günter Grass, deren Werk er in seinem Essay exemplarisch analysiert, die angelsächsische Siegerideologie vom deutschen Tätervolk und seiner singulären Schuld verabfolgt wurde. Seit beinahe siebzig Jahren geht es Buch um Buch zu wie in Lewis Carrolls ewiger Teestunde. Mit dem einzigen Unterschied nur, daß man hier nicht Earl Grey, sondern Kollektivschuld zelebriert. Wie unheilbar sich das eingefressen hat, erhellt Hinz fast beiläufig, wenn er notiert, Grass habe erst ins Rentenalter kommen müssen, um über die vielfache Vergewaltigung seiner Mutter, der Danziger Kolonialwarenhändlerin Helene Grass, durch die Sowjetsoldateska schreiben zu können. Und dennoch habe er daran festhalten wollen, daß sich dort im leergeräumten Geschäft, im Keller in Danzig-Langfuhr, nur rächte, was Grass unter der Chiffre Auschwitz subsumiert, die ihm das bleibende Brandmal unserer Geschichte sei. Er durfte also offenbar allen Grund haben, sich selbst vor den russischen Vergewaltigern seiner Mutter noch schuldig zu fühlen. Es hätte Hinz wenig Mühe gekostet, diesen pathologischen, genuin künstlerisch-literarische Zugänge zur Welt vermauernden Gedanken- und Gefühlshaushalt einer schwer traumatisierten Schriftstellerelite mit unzähligen Lesefrüchten zu illustrieren. Nicht nötig, denn jedermann kann an beliebigen Texten seine Momentaufnahmen bestätigen. Zudem dürften den heutigen werberelevanten Generationen der 15- bis 49jährigen die Lesefrüchte dieser Autoren durch jahreslanges Traktieren im kritischen Deutschunterricht noch geläufig sein. Dazu ergänzend ist etwa das Gewimmere der Christa Wolf im Zeit-Magazin vom 1. Juli noch taufrisch: Ihre Kriegsgeneration wollte nach 1945 nicht mehr so gerne deutsch sein. Und die Identitätskrisen solcher frühen Antideutschen generierten dann eben die Literatur der Schuldkolonie Bundesrepublik, während sich die mitteldeutschen Antifaschisten von Kuba bis Christa Wolf mehr oder weniger wendig in die Siegerrolle des Brudervolkes hineinphantasierten. Nun handelt es sich bei Hinz Klientel aber nicht um eine Kohorte randständiger Neurotiker. Die schier unfaßbare Resonanz ihrer trivialen Texte, Hinz weist auf die Millionenauflage von Bölls Ansichten eines Clowns (1963) hin, gehört viel eher in die Rubrik Gesucht Gefunden. BöllGrassLenz konnten die geistige Ausstattung der Bundesrepublik nur stemmen, weil sie den auf Umerziehung geradezu versessenen Geist der Zeit erfaßten, bedienten und bestätigten. Die verhinderten Alternativen hingegen, die sich der Metasprache der Kolonialherren nicht befleißigten, Ernst von Salomon oder Gerd Gaiser, die Hinz hier heranzieht, auch Ernst Jünger natürlich, blieben letztlich Außenseiter. Nicht etwa weil Inquisitoren wie Walter Jens oder Marcel Reich-Ranicki sie als Faschisten denunzierten, sondern weil das Publikum am selben politischen und geistig-kulturellen Souveränitätsdefekt litt wie die Exponenten der Gruppe 47. Leute wie Ernst von Salomon, die von deutscher Selbstbestimmung nicht lassen wollten, schieden daher zwangsläufig aus dem Literaturbetrieb aus. Die Schuldtranszendenz, mit der die literarischen Filialisten der angelsächsischen Kultur den Nerv der Massen trafen und die sich nach 1989 gesamtdeutsch staatsideologisch konstituierte, um die beiden auf Selbstabschaffung hinauslaufenden E-Projekte der politischen Klasse, Europa und Einwanderung, zu legitimieren, herrscht 2010 absoluter, effizienter und dabei viel sanfter als jeder Totalitarismus. Aus Hinz Blickwinkel, der Adornos Dichotomie vom richtigen und falschen Leben verpflichtet ist, erscheint der von unseren Dichtern und Denkern seit zwei Generationen konditionierte, seit langem verinnerlichte Verzicht auf Selbstbestimmung mithin als falsches Leben von achtzig Millionen Deutschen und Paß-Deutschen. Eine ungeheuerliche These! Die man vielleicht nur zynisch kontern kann: Können Millionen Fliegen wirklich irren? Thorsten Hinz: Literatur aus der Schuldkolonie. Schreiben in Deutschland nach 1945. Band 20 aus der Reihe Kaplaken. Edition Antaios, Schnellroda 2010, gebunden, 96 Seiten, 8,50 Euro Foto: Günter Grass und Heinrich Böll 1973 in Frankfurt: Den auf Umerziehung geradezu versessenen Zeitgeist erfaßt, bedient und bestätigt |