© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/10 28. Mai 2010
Childfree-Bewegung: Ein neues Kleid für den Hedonismus Bei manchen Dingen wundert man sich, warum nicht längst jemand auf die Idee gekommen ist. Die Childfree-Bewegung (www.childfree.fr) ausgerechnet oder gerade in unserem demographisch noch sehr regen Nachbarland Frankreich ist ein Beispiel dafür. An einem Samstag im Mai trafen sich in Paris Akteure dieser Bewegung im Comptoire Général am Canal Saint-Martin, um sich in einer Zeremonie für ihre Kinderlosigkeit gegenseitig zu feiern und in ein Großes Buch der Sterilität einzutragen. Dabei wurde den Teilnehmern eine ökologische Verdienstmedaille in Form eines mit einer Schleife verbrämten Präservativs verliehen. Wir wollen damit dazu gratulieren, keine neuen Konsumenten-Umweltverschmutzer in die Welt zu setzen, freut sich Théophile de Giraud, der Organisator des ersten Festtages der Nicht-Eltern in Frankreich, gegenüber dem Journal du Dimanche. Im Vorjahr hatte der belgische Autor ausgerechnet in Brüssel, wo Mohammed der häufigste Vorname unter männlichen Neugeborenen ist bereits erfolgreich die europäische Auftaktveranstaltung dieser Bewegung organisiert. Ihren Ursprung hatte die Childfree-Bewegung bereits vor fast 40 Jahren in den Vereinigten Staaten, wo sie auch schon deutlich stärker entwickelt ist und zum Beispiel den kinderlosen, unabhängigen grünen Präsidentschaftskandidaten Ralph Nader zu ihren Unterstützern zählt. Die Mutter der Kinderlosen-Organisationen, die National Organization for Non-Parents (Nationale Organisation der Nicht-Eltern), wurde dort 1972 von Ellen Peck und Shirley Radl in Palo Alto, Kalifornien, gegründet. Das Ziel der N.O.N. (heute National Alliance for Optional Parenthood Nationale Allianz für optionale Elternschaft) war, die Erkenntnis zu verbreiten, daß sich Männer und Frauen auch bewußt gegen Kinder eintscheiden können. Erst später bekamen die grünen Themen Ressourcenschonung und Rückbau der globalen Überbevölkerung eine immer größere Bedeutung in der Abwehr des häufigen Egoismusvorwurfs gegenüber Kinderlosen. Da aber auch in den USA für linke Aktivisten lange Zeit das Thema Recht auf Abtreibung pro-choice im Vordergrund stand, führte diese Bewegung insgesamt eher ein Schattendasein. Nachdem inzwischen jedoch in nahezu allen westlich-liberalen Ländern die Abtreibung zum bürgerrechtlichen Besitzstand gehört, ist mit deutlich zunehmenden Aktivitäten der Childfree-Akteure zu rechnen. Schließlich benötigt in den westlichen Ländern die aus Hedonismus und Geburtenverhinderung hervorgegangene gewollt kinderlose Bevölkerungsgruppe einen geistig-moralischen Unterbau für ihr Tun oder Unterlassen. Immerhin handelt es sich dabei in Frankreich um fünf bis zehn Prozent und in Deutschland um tendenziell bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung. Indizien für eine sich verfestigende Subkultur auch in Frankreich und Europa gibt es neben der aktuellen Veranstaltung in Paris genug: Es wurden bereits mehrere Bücher veröffentlicht, die diesem Lebensstil huldigen, wie Enfantasme Welches Glück, keine Kinder zu haben von Katia Kermoal oder No Kid Vierzig Gründe, kein Kind zu haben von Corinne Maier. Weiter existieren nicht zufällig zuerst in Frankreich, wo der Druck auf Kinderlose durch eine pro-natalistische Bevölkerungspolitik am stärksten spürbar ist bereits mehrere Internet-Foren zu dem Thema. (Auf yahoo-France hat sich zum Beispiel das Internet-Forum childfree konstituiert.) In diesen Foren ermutigt man sich gegenseitig und teilt miteinander Horrorgeschichten über die eigenen enkelwütigen Eltern, die einfach keinerlei Verständnis für abweichende Lebensentwürfe aufbringen. Gleichzeitig beruhigt man sich, daß große Persönlichkeiten wie Émile Zola, Gertrude Stein, Oprah Winfrey, Patrick Swayze, Albert Schweitzer oder Jean-Paul Sartre auch kinderlos Spuren auf dieser Welt hinterlassen haben. Übrigens wurde bei der deutschen Internet-Domainverwaltung denic bereits die analoge Seite www.childfree.de reserviert, so daß mit baldigen Aktivitäten dieser Bewegung auch in Deutschland zu rechnen ist. Man darf gespannt sein, wie sich die deutschen Aktivisten in unsere Diskussion zum Generationenvertrag oder zum demographischen Niedergang einbringen werden und wo sie ihre politische Heimat suchen. |